Read + Play: Einführung in die Typografie
Beinahe hätte ich diesem Buch Unrecht getan. Heute morgen grübelte ich noch darüber, ob es schon mal die Fontblog-Überschrift »Akademischer Scheiß« gegeben hat. Wenn nicht, wäre heute der Tag dafür. Noch nie habe ich ein »Einführung in die Typografie in Händen gehalten«, die keine Typografie enthält und noch dazu typografisch schlecht gestaltet ist. Was ist denn her eigentlich los? Thema verfehlt? Erst mal mittagessen.
Ich gebe offen zu, dass mich akademisch Ausschweifendes zu Tode langweilt. Den Beweis, dass ich mit dieser Auffassung nicht alleine bin, lieferte mir in den letzten Jahren der ein oder andere TYPO-Auftritt. Wenn schon vor Beginn eines Vortrags ein Drittel der Besucher den Saal verlässt, weil gerade ein Overhead-Projektor (Polylux) auf die Bühne geschoben wird, folgt garantiert ein zweites Drittel 15 Minuten später, wegen unerträglicher Umständlichkeit des Gesprochenen und Gezeigten. Auf einer Designkonferenz für Kommunikationsprofis geht so was nicht durch.
Und so ziehe ich mir den Schuh auch nicht an, dass ich das Buch (die Broschüre), um das es hier geht, auf den ersten Blick falsch verstanden hätte. Manchmal gibt es keinen zweiten Blick … heute gab es ihn mehr oder weniger zufällig, weil ich beim Mittagstisch was Gedrucktes lesen wollte. Gutes Design muss auf den ersten Blick funktionieren, anmachen. Man verwechsle das bitte nicht mit Verflachung. Übersetzt in die Sprache der Popmusik: es darf gerne so eingängig wie ABBA oder Petshop Boys sein, bei Gorillaz oder Kanye West wird’s richtig spannend – doch was unter Alternative oder World Music läuft, erfordert Geduld, und diese ist im Job nur in unbegrenzten Mengen verfügbar.
Beim Mittagessen lese ich erst mal das Vorwort. Keine gute Visitenkarte, denn es ist (1.) zu klein gesetzt für den Leseabstand, der sich ergibt, wenn man eine große Schale vietnamesischen Salat unterm Kinn stehen hat und 35 cm darüber das aufgeschlagene Buch … (2.) ist es aus der dicktengleichen Schreibmaschinen-Schrift Letter Gothic (Linotype) gesetzt, die (3.) unfassbar mager im Offset-Druck zu Papier kommt – als ob es nicht die kräftigere, proportionale FF Letter Gothic Roman von Albert Pinggera gäbe. Die Autoren müssen sie kennen, denn sie empfehlen in ihrem Buch unsere Website 100besteschriften.de, auf der ich ausführlich auf die Schwäche der alten und die Stärke der neuen Letter Gothic eingehe.
Zumindest inhaltlich spricht das Vorwort von »Read + Play« eine klare Sprache: »Read + Play verrät keine Details sondern ist der Navigator durch den Dschungel des Fachwissens. Seine Aufgabe ist es, eine Orientierung zu geben, welche Bereiche in der Typografie besonders relevant sind und welche Bücher, Publikationen oder Links darüber hinaus weiterführende Auskünfte geben.« Jetzt verstehe ich: Das vertiefende Studium beginnt erst nach der Lektüre von Read + Play, in der Fachliteratur, die das Buch ausführlich und fundiert empfiehlt. Es ist also keine Einführung in die Typografie, sondern ein Inhaltsverzeichnis zur Einführung in die Typografie. Also doch Thema verfehlt, nein: Thema falsch benannt.
Und dieses Thema ist wichtig. Darum ist auch dieses Buch wichtig, auch weil es so etwas zuvor noch nie gab. Read + Play gliedert sich in vier Kapitel. In Teil A geht es um das Beziehungsgeflecht zwischen Typografie, Kommunikation, Kultur und Gesellschaft. In Kapitel B werden typografische Grundsatzfragen behandelt. In Kapitel C diskutieren Lehrende der FH Mainz (gleichzeitig Arbeitsplatz der Herausgeber) über verschiedene im Buch auftauchende Fragestellungen. Kapitel D enthält Kurzbeschreibungen der empfohlenen Publikationen sowie weitere Links und Hinweise. Das Werk richtet sich damit gleichermaßen an Studienanfänger und Fortgeschrittene.
Abschließend ein Wort zur Zweisprachigkeit des Buches, die in meinen Augen nicht lesefreundlich gelöst ist. Mal abgesehen davon, dass sich der Sinn des vorderen Titel (deutsch) und der des gleich gestalteten hinteren (englisch) Titels bei einem Werk, das »Read + Play« heißt nur auf den dritten Blick erschließt: die Sprachen stören sich gegenseitig, weil sie miteinander verwoben sind. Man liest immer nur die rechte Seite – in seiner gewählten Sprache, die linke steht auf dem Kopf und ist in der zweiten Sprache verfasst und stammt aus dem hinteren Teil des Buches, wenn man gerade im vorderen Teil der ersten Sprache liest. Verstanden?! Nein?! Genau das ist es, was ich ursprünglich »akadmischen Scheiß« nennen wollte. Da das Werk aber im Willbergschen Sinne (dessen Bücher Wegweiser Schrift, Lesetypografie und Erste Hilfe in Typografie selbstverständlich zu Recht dringend empfohlen werden) das konsultierende Lesen voraussetzt, darf es das. Und so gesehen, passt es auch wieder zusammen.
Daher meine dringender Empfehlung an Typografie-Neu-/Quer-/Seiten- und Vonwoauchimmer-Einsteiger: Kauft das 144-seitige Read + Play von Prof. Jean Ulysses Voelker und Peter Glaab, fadengeheftet, für nur 18,50 € im Shop von designinmainz.de.
7 Kommentare
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erik spiekermann
Ich finde das buch großartig, aber die typografische gestaltung nicht dem thema angemessen. Man spürt die absicht und ist verstimmt. Mit der entscheidung für eine „un“schrift soll bestimmt neutralität ausgedrückt werden. Als metatext zu gestaltung darf er keine stellung beziehen und auf keinen fall irgendwie geschmackliche ansprüche stellen. Leider ist nun aber ein solcherart ungestalteter text auch gestaltet – die verursacher stehen natürlich im impressum. Andere hätten den text mit Helvetica wegtypografiert und wahrscheinlich dazu eine seitenlange rechtfertigung geschrieben, was noch schlimmer, aber lesbarer gewesen wäre.
Nochmal für alle: es gibt keine objektive gestaltung, weil es keine objektive rezeption gibt.
Wer weiss, woher die macher kommen, der versteht auch die Letter Gothic. Aber auch davon gibt es bessere varianten, wie Jürgen schreibt.
Trotzdem noch einmal: ein großartiges buch. Wieviele hochschullehrer machen sich die mühe, ihre studenten so umfassend zum lernen anzuregen und anzuleiten? Denn das müssen studenten: lernen lernen. Und dazu ist dieses werk das beste, was ich seit langem gesehen habe.
nora
Dem Urteil kann ich voll und ganz zustimmen. Ich habe es auch schon empfohlen im Unterricht. Und ich finde, es war die richtige Entscheidung ein Buch völlig ohne Bildmaterial hierzu zu entwickeln. Alles andere haben wir schon in x-facher Ausführung gesehen. Und hier gehts um lernen, um lesen, um das Verständnis dafür zu entwickeln, was Typografie überhaupt für eine Disziplin ist. Und gestalterisch ist meines Erachtens nach die Absicht völlig klar. Wer das hier liest, will lesen, lernen und begreifen. Die anderen werden dieses bilderfreie Dings eh nicht in die Hand nehmen. Und die ganzen Querverweise zur bestehenden Literatur, so was gab es – in dieser Form – noch nicht. Glückwunsch nach Mainz und Danke für das Engagement.
Phil
Ich möchte daran erinnern, dass der zweitbeste Vortrag der TYPO eine Studentische Arbeit zum Thema hatte.
Lustig war, dass der beste und der schlechteste Vortrag jeweils von Menschen ohne Studienabschluss kam.
Was für mich beweist: Schubladen sind nur bedingt zum Denken geeignet. Aber schön, dass du deine Makel zumindest zugibst, Jürgen. ;)
Jürgen Siebert
Was ich als »akademische Scheiße« bezeichne (jetzt mal im negativen Sinne) hat nichts mit Hochschule oder Studium zu tun. Ganz im Gegenteil: Große intellektuelle Schaumschläger kompensieren nicht selten eine abgebrochene Ausbildung mit ihren selbstreferenziellen Ergüssen, sei es das verpasste Abitur oder das nicht abgeschlossene Studium. Unter den Hochschullehrern und Studierenden bzw. Diplom-Designern, die mir in den letzten Jahren so begegneten, ist mir niemand negativ in dieser Hinsicht aufgefallen – von den 3 bis 4 TYPO-Berlin-Unfällen mal abgesehen.
Simon Wehr
Könnte man das also auch Bibliografie nennen?
Als ehemaliger Voelker-Schüler habe ich das Buch bereits vor ein paar Tagen unbesehen bestellt und bin gespannt, es selber kritisch zu beobachten.
@ Erik: »Wer weiss, woher die Macher kommen, der versteht auch die Letter Gothic.«
Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich die verstehe. Könntest Du mir Nachhilfe geben?
erik spiekermann
In den 70er jahren gab es nicht nur in Düsseldorf die angewohnheit, texte aus Letter Gothic zu schreiben. Die schrift war die einzige coole type auf der IBM Selectric mit „golfball“ schreibkopf. Roland Henß-Dewald war student und später professor an der FH dort und großer experte für gestalten und produzieren mithilfe von schreibmaschine und fotokopierer, damals die einzige erschwingliche methode. Mit der IBM konnte man sogar weiß auf schwarz schreiben (mithilfe des korrekturbandes). Helmut Schmidt-Rhen war professor in Düsseldorf und meister der reduzierten typografie, und Eckhard Jung, später professor in Bremen, war auch verfechter dieser produktionsmethode und hatte damals ein büro in Düsseldorf. Es gab seinerzeit viel Letter Gothic. Ulysses Völker hat bei Jung in Bremen studiert und steht folglich in dieser tradition. Übrigens auch Viktor Malsy, damals bei Jung in Bremen, heute professor in Düsseldorf. Ulysses war mal praktikant bei mir (chez MetaDesign) anfang der 90er und Viktor kenne ich noch aus meiner anfangszeit in Bremen an der hochschule.
Simon Wehr
Mit Schreibmaschinen kenne ich mich nicht aus, von daher vielen Dank für die kleine Geschichtsstunde!