FontShop und der 9. November 1989
Wie an anderer Stelle bereits berichtet, feiert FontShop in diesen Tagen seinen 20. Geburtstag. In einem Kommentare erwähnte ich, dass FontShop zur Zeit des Mauerfalls im Erdgeschoss des Weinhaus Huth untergebracht war, zusammen mit MetaDesign. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 stand dieses Gebäude allein auf weiter Flur neben den Überresten des Hotels Esplanade (Kaisersaal) auf West-Berliner Gebiet, in unmittelbarer Nähe der Mauer und wurde zum Symbol für die Zerstörung und Teilung der Stadt.
Das Weinhaus Huth und der Potsdamer Platz Mitte der 80er Jahre (Quelle: Die Gebäude des Bundesrat, Weinhaus Huth)
Vom Dach des Weinhaus Huth aus erlebte ich am 21. Juli 1990 die Aufführung von »The Wall«. Das Konzert wurde vom Pink-Floyd-Mitbegründer Roger Waters geleitet, der die Rechte an »The Wall« hatte. Alle Mitwirkenden (u. a. Paul Carrack, Cyndi Lauper, Sinéad O’Connor, Joni Mitchell, Jerry Hall, Bryan Adams, The Hooters, Scorpions, Van Morrison) verzichteten auf die Gage, der Erlös in Höhe von sechs Millionen DM wurde an die Stiftung World War Memorial Fund for Disaster Relief gespendet. FontShop stand kurz vor dem Umzug in die Bergmannstraße, und Joan und Erik Spiekermann veranstalteten eine Open-Air-Party auf dem Dach des Weinhaus Huth. Ich lernte sie als Chefredakteur von PAGE wenige Monate zuvor kennen.
Rund 300 000 Zuschauer erlebten auf den ehemaligen Todesstreifen zwischen Brandenburger Tor und Leipziger Platz die Neuinszenierung der Rockoper »The Wall« (Quelle: Bundesarchiv Bild 183-1990-0722-402)
Erik Spiekermann erlebte also den Fall der Mauer mit seinen beiden Unternehmen MetaDesign und FontShop hautnah. Ich kann mich an ein Telefonat mit ihm erinnern, in dem er schilderte, wie die jungen Designer von Grappa aus Ostberlin des öfteren in den Büros am Potsdamer Platz vorbei schauten, um per Desktop Publishing Flugblätter zu gestalten und zu drucken. PAGE stiftete dem Designbüro in der Münzstraße einen ausrangierten Fotokopierer.
Doch niemand war dem Fall der Mauer so nahe wie unser heutiger [damaliger Anm. der Redaktion] FontShop-Kollege Marcus Hahn, was ich erst vor wenigen Stunden aus dem aktuellen SPIEGEL erfahren habe. Er stand in der Nacht vom 8. 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße, direkt vor dem Schlagbaum. Der SPIEGEL nennt Marcus in seiner aktuellen Titelgeschichte »Grenzgänger« und beschreibt das Geschehen von damals mit folgenden Worten:
»Der 22-Jährige, Buchhalter beim Berliner Aufzug- und Fahrtreppenbau, hatte Schabowskis Pressekonferenz bei seiner Mutter in Friedrichshain gesehen, er dachte, da muss man sicher einen Antrag stellen, das dauert, sie sagte, probier’ es mal, und deshalb ist er dann später, als er Zigaretten kaufen wollte, zum Grenzübergang geschlendert. Hahn musste ein bisschen drängeln, zu dem Zeitpunkt hielten die Leute noch Abstand zu den Grenzern. Einige wollten unbedingt rüber, andere wollten wie er nur gucken.
Die Stimmung war bestens, hat ihn angesteckt, er lief in seine Wohnung und holte seine Freundin, die schon schlief. ›Zieh dich an, wir müssen raus, irgendwas passiert noch.‹ Er hatte keine Angst, dass die mit Knüppeln kommen. Die Menge wuchs schnell. ›Da stellen wir uns nicht an‹, maulte seine Freundin. Sie haben sich vorgedrängelt, die Leute waren lustig, brüllten ›Macht auf‹, die Stimmung war nicht angespannt.
Die Grenzer haben Einzelne herausgewinkt, die durften dann rüber. ›Ich hab gedacht, so geht das doch nicht weiter.‹ … (Er) steht ganz vorn am Schlagbaum, seine Freundin hinter ihm, hält sich an seiner Jacke fest. Als die Offiziere vor ihm den Schlagbaum nach innen führen, wird er von den Leuten nach vorn gedrückt, hält sich mit einer Hand am Schlagbaum fest, um nicht zu fallen, wird von der Menschenmenge weiter getrieben, immer tiefer in den Grenzuübergang hinein, mit der ausdauernden Kraft eines Tsunami ergießt sich der stundenlang, jahrelang, jahrzehntelang aufgestaute Wille von Zehntausenden über die breite Stahlbrücke nach Westen.
Marcus Hahn erwartet, auf irgendeine Kontrolle zu treffen, auf Grenzer, auf Formulare, aber er trifft auf zwei grinsende Männer in dunkelgrüner Uniform, die ersten Westpolizisten. Er bleibt stehen und macht, was ihm seine Mutter geraten hat: Wenn du irgendwo bist, wo du noch nie warst, musst du erst mal die Luft einatmen, weil es anders riecht. Ja, es riecht anders.«
7 Kommentare
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erik spiekermann
Wir sind erst im August umgezogen.
erik spiekermann
…. und Daniella von Grappa machte offiziell ein Praktikum bei uns. Derweil hackte Just van Rossum einen Treiber für unseren Canon 100 Farbkopierer um ihn an den RIP von Adobe anzuschließen, den wir zwar hatten, aber ohne Verbindung zum Kopierer. Danach hatten wir einen Farbdrucker – inoffiziell, aber er funktionierte.
Jürgen Siebert
Danke für den Hinweis mit August … ich hatte diese Drucksache falsch interpretiert: http://img255.imageshack.us/img255/4623/fs1990.jpg
Der Flyer war sicher ab Ende 1990 im Einsatz.
Indra
Das ist so eine tolle Geschichte! Da wird mir immer gleich ganz anders.
Henry
Hallo Jürgen, da war der Kollege Hahn ja ein echter „Hellseher“, wenn er schon einen Tag vor der Öffnung des Schlagbaums zum „Grenzübertritt“ anstand. Du meinst sicher die Nacht des 9. November.
Aber, so war es im Osten – alle standen an und keiner wusste was es gibt.
Ansonsten folge ich @Indra. Große Gefühle auch nach 20 Jahren.
Jürgen Siebert
@Henry: Ich wollte mal testen, ob Ihr auch alle aufmerksam zu Ende lest :)
Dan Reynolds
Super Beitrag! Bitte mehrere Artikeln in dieser Richtung. Es ist eine große Freude, sie zu lesen.