FontBook 4: Korrigieren, nicht fantasieren!


Bei der Arbeit am FontBook 4 ist nur in einem Moment Phantasie gefragt: beim Verweisen auf verwandte Schriften. Um Dichtung und Wahrheit nicht zu vermischen, haben wir die Empfehlungen bewusst von der systematischen Phase abgekoppelt, die in dieser Woche endet. Noch bis einschließlich Samstag beschäftigen uns Entwurfsjahr, Entwerfer/innen, Schriftstile, Klassifizierung, Vollständigkeit und die richtige Darstellung. Um an verbindliche Daten zu kommen, nutzen wir alle Werkzeuge: von der Präsenzbibliothek über das Internet bis hin zum Telefonat mit Schriftherausgeber und -entwerfer. Weiterlesen ...


Wie wir recherchieren, drei Beispiele:

A. Schriftdaten filzen
Es gibt Schriftenhäuser, für die waren die Schöpfer der Alphabete jahrelang »anonyme Lieferanten«. Und genau diese Hersteller machen der FontBook-Redaktion die meiste Arbeit, weil Entwerfer und Entwurfsjahr mühsam recherchiert werden müssen. Das Verbreiten anonym geschaffener Fonts ist auch die Ursache dafür, dass der Datenklau bei Schriften weitgehend mit reinem Gewissen praktiziert wird. Wer Musik illegal aus dem Netz saugt, ist sich stets der Tatsache bewusst, dass er Komponist, Texter und Musiker um ihre Tantiemen betrügt. Doch wen schädigt man beim Gestalten mit raubkopierten Schriften, deren Entwerfer und Digitalisierer niemand kennt?
Die von FSI FontShop International herausgegebene FontFont-Bibliothek wie auch das FontBook haben die Urheber von Schriften stets benannt und prominent zum Produkt gesetzt. Und so wird es auch im FontBook 4 wieder sein. Es werden nur wenige Schriften auf den rund 1700 Seiten dargestellt sein, bei denen sowohl Ursprungsjahr als auch der oder die Entwerfer fehlen.



Wer schuf die Schriften des Las-Vegas-Font-Packs von House Industries? Ein Blick in die Schriftdaten bringt Klarheit ...

Der US-Schrifthersteller House Industries gehört sicher nicht zu den Anonymen der Branche, ganz im Gegenteil. Vorträge auf Konferenzen, Konzerte auf der TYPO-Konferenz, die gerade zu Ende gegangene Europa-Tour und das im letzten Jahr erschienene »House-Buch« haben Rich Roat, Ken Barber, Andy Cruz und Adam Cruz weltberühmt gemacht.
Sicher entwerfen sie viele ihrer Schriften im Team. Möglicherweise liegt es daran, dass es kaum Entstehungsangaben zu den eigenen Fonts gibt, weder auf ihrer Webseite, noch in den Katalogen, selbst nicht im House-Buch. Da gibt es für den FontBook-Redakteur nur eine Lösung: in die Schriftdaten schauen.
Ich wollte unbedingt wissen, wer die Las-Vegas-Fonts (ansehen, kaufen) geschaffen hat. Weil wir die Schriften im Jahr 2001 für Werbezwecke von House Industries bekamen, holte ich mir die Dateien aus dem Archiv, warf sie in den FontExplorer X und nutzte dessen Information-Button um Einblick in die Daten zu bekommen. Siehe da, hier wurden alle meine Fragen beantwortet:
LasVegas Castaway / 2001: Ken Barber (FontBook-Kapitel Script)
LasVegas Fabulous / 2001: Ken Barber (FontBook-Kapitel Script)
LasVegas Jackpot / 2001: Ken Barber (FontBook-Kapitel Display)
LasVegas Nugget / 2001: Ken Barber (FontBook-Kapitel Display)
LasVegas Patterns / 2001: House Industries (FontBook-Kapitel Symbols)



... das Informationsfenster des FontExplorer X gibt die Antwort: Ken Barber entwarf die Las Vegas Jackpot im Jahr 2001.

B. Schriftherausgeber anrufen
Bei den Schriften von Elsner + Flake, die inzwischen auch die Schöpfer und die Entstehungsjahre ihrer Schriften pflegen, stieß ich zweimal auf verwunderliche Jahreszahlen. Die Schrift Mao Mao von Simone Schöpp soll 1974 entstanden sein: so steht es bei Elsner + Flake und auch bei MyFonts: die Entwerferin hätte die Schrift also im Alter von 12 Jahren geschaffen.



Wer schuf die Schrift Knockout von E+F? Gisela Will entwarf sie 1994 und nicht 1974, wie auf der E+F-Internetseite zu lesen ist

Der E+F-Grunge-Font Knockout von Gisela Will ist bei E+F und bei MyFonts ebenfalls auf 1974 datiert, in der Hobby-Datenbank des kanadischen Mathematikers Luc Devroye finden sich angesichts des Entwurfsjahres phantastische Interpretationen:
»Her early work often involves erasure/grunge-type designs. Her Knockout font (grunge) at Elsner and Flake (1974) predates Jonathan Hoefler’s Knockout family (1999) by 25 years, so why is Hoefler not in trouble for the choice of this name?«
Nirgends verbreiten sich falsche Daten schneller als im Internet. Für das FontBook verbietet sich die ungeprüfte Übernahme von Daten, wo immer sie herkommen.
Mein Telefonat mit Veronika Elsner brachte gestern Klarheit in den Datendschungel: Ein Tippfehler war die Ursache für die frühpubertären Schöpfungszeiten von EF Mao Mao und EF Knockout.

C. Schriftentwerfer sprechen
Als ich vorgestern auf die URW-Schrift Crayfish Bold stieß, stellte sich bei den Recherchen bald heraus, dass die Kleinfamilie bei URW nicht mehr geführt wird. Dank Google hatte ich den Entwerfer der Schrift schnell ausgemacht, unseren Kollegen Andreas Seidel. Auf seiner Seite traf ich den Font als Crayfish Thunder und Titan wieder, inzwischen ausgebaut auf 8 Schnitte mit einer Italic und einer Konturform für den zweifarbigen Einsatz. Ich schickte ihm eine kurze Mail und 5 Minuten später rief er mich zurück.



Wo ist die Schrift Crayfish abgeblieben? URW vertreibt sie nicht mehr, aber ihr Entwerfer Andreas Seidel.

Wir konnten den Fall rasch klären. 2002 hatte Andreas Seidel die Schrift bei URW zurückgezogen, um sie auszubauen und anschließend selbst zu vertreiben. Weil der Redaktionsschluss für das FontBook immer wieder nach hinten verschoben wurde, hatte URW sicher mal die Crayfish berechtigterweise geliefert, aber die Information, dass man den Font nicht mehr führe, ist irgendwie untergegangen. Ich bin mit Andreas Seidel so verblieben, dass wir seine Schrift im FontBook belassen und die neue, ausgebaute Version zeigen werden.
Nur habe ich ganz vergessen zu fragen, welches Entstehungsjahr wir nun veröffentlichen müssen. Er wird es mir sicher hier ins Kommentarfenster schreiben ;-)

Herausgegeben: Fr - Oktober 14, 2005 at 09:55 vorm.         |


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