Fundstücke aus der Provinz (3)
Ich behaupte, ohne das hier näher begründen zu wollen: Eine gesunde Stadt kennzeichnet ein gesundes Gewerbe. Der Handel in Bad Camberg, um mal den Namen meiner Heimatstadt zu nennen, ist nicht gesund. Während in der Altstadt ein gutes Dutzend Geschäftsräume – in bester Lage – leer stehen, viele davon schon seit Jahren, florieren an den Ortseingängen 14 Handelsketten* und mehrere Notdurft-Versorger, wie die ganz unten abgebildeten und bereits in Folge 2 erwähnten mobilen Verkaufsstände, die nur scheinbar mobil sind, denn sie haben sich an der Bundesstraße 8 häuslich eingerichtet.
Spricht man mit engagierten Menschen über die Entwicklung, scheinen diese das Problem entweder nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Der Vorsitzende des Vereins historisches Camberg ist stolz auf die Sanierungsarbeiten in der Altstadt und sein »neustes Produkt«, luxuriös Speisen an geschichtsträchtigen Orten. Der Redakteur des Lokalanzeigers ist stolz auf die Anzeigenumsätze. Mein Nachbar, Malermeister und Ehrenstadtrat, ist stolz auf seine Baustelle am Marktplatz, wo er die Fassade eines der schönsten Fachwerkhäuser Hessens restauriert.
Mir liegt es fern, die Verantwortlichen zu kritisieren. Viele Städtchen haben ähnliche Probleme, also sind sie nicht leicht zu lösen. Andere Gemeinden tun so, als hätten sie diese Aufgabe bewältigt. Zum Beispiel die anscheinend florierenden Lokalmetropolen Limburg und Idstein. Doch sind sie »wohnlich«, bieten sie Lebensqualität und Urbanität? Für die Kurstadt Bad Camberg können diese zwei Beispiel kein Vorbild sein. Meine Heimatstadt muss ihren eigenen Weg finden. Seit der ein Bürgermeister meiner Generation im Amt ist, gibt es kleine Neuanfänge. Das macht mir Hoffnung.
Natürlich sehe ich als Gelegenheitsbesucher das Städtchen mit anderen Augen. Allein diese Sichtweise erlaubt es mir, die ein oder andere Stilblüte aufs Korn zu nehmen. Zum Beispiel die Werbung zweier lokaler Friseure. Der TrendFriseur in der Limburger Straße wirbt groß mit dem Hinweis »Mit Voranmeldung« (Abbildung oben). Aus Berlin kenne ich eigentlich nur den gegenteiligen Trend, also »Ohne Voranmeldung«, will heißen: Komm gleich rein und lass Dich verwöhnen. Irgendwie scheint die Zeit stehen geblieben, beim TrendFriseur.
Ein Wettbewerber in der Bahnhofstraße wirbt mit einem – ebenfalls abstoßenden – Aufsteller, der die Methode ContactSkin erläutert, eine Alternative zum Toupet, oder auch: »die Kontaktlinse für den Kopf«. Während die Website richtig fast überzeugt, indem sie Guildo Horn in Gérard Depardieu verwandelt, schreckt die Dorfwerbung mit ihrer Steckbrief-Ästhetik regelrecht ab.
Nicht minder abschreckend: Die kuuhle Möbel-Werbung von Powalla. Sicherlich regeln sich derartige Aktionen nach einiger Zeit von selbst. Doch jeder Tag mit der Plastikkuh am Ortseingang Limburger Straße ist ein Tag zu viel. Hat der Magistrat kein Vertilgungsmittel gegen tierisch lustige Karnevalswagen außerhalb der Saison?
Aktueller Tiefpunkt im Bad Camberger Gewerbe sind die beiden Wohnwagen am gegenüberliegenden Ortseingang, Frankfurter Straße. Gestern sah ich die Betreiber der Imbissbude kreative Werbesprüche auf ihre leuchtfarbene Schilder malen, heute morgen verführen sie hungrige Autofahrer zum Anhalten: »Vorsicht!!! Lecker. Heiße Fleischwurst« und »Lust auf Geschmack: Alles rund um die Wurst«.
* u. a. Aldi, Lidl, Kik, Rewe, Edeka, Penny, Tengelmann, Netto, Norma, Schlecker, Toom-Getränkemarkt, Hagebaumarkt, Dänisches Bettenlager, Teppich-Domäne (Tedox), u. v. m.; Schlecker 2 und Woolworth nur noch bis September
Fundstücke aus der Provinz (2)
Unser Spaziergang beginnt im Feld, oberhalb meiner Heimatstadt. Mähdrescher der Marke John Deere ernten gerade Raps. Früher wurden hier Roggen, Weizen, Mais und Hafer angepflanzt, heute ist die Biodiesel-Pflanze die klare Nummer 1 auf den Äckern des Goldenen Grunds. Ich muss mich nicht bücken, um das beeindruckende Michelin-Logo auf dem 2 Meter hohen Traktorreifen zu fotografieren.
Betritt man das Städtchen über die Lisztstraße, stößt man am Mühlweg auf das Restaurant Casamar, das vorgestern geschlossen wurde. Trotz medialer Unterstützung durch die Kabel-1-Fernsehserie Hagen hilft (iTunes-Episoden-Link) gab der Wirt Jürgen Müller nach zwei Jahren auf. Er trägt es mit Fassung, für ihn ist das Kapitel Casamar Geschichte.
Ich glaube der Fall Casamar zeigt, dass ohne Kommunikationsdesign nichts läuft … da kann die Küche noch so gut und noch so günstig sein. Der TV-Unternehmensberater Stefan Hagen hat sich um die Speisen und die Positionierung des Restaurants gekümmert, aber nicht um dessen Namen, das Erscheinungsbild und die Werbung. Wenn man sich im Hochparterre eines Ärtzehauses in einer Kleinstadt einnistet, das nicht nach Gaststätte aussieht, muss man mit eindeutigem Namen und Signalen auf sich aufmerksam machen. Warum nicht »Zur Mühle«, denn die stand dort zuvor jahrzehntelang und das wissen viele Bürger der Stadt noch. Casamar versteht keiner, und wenn man es versteht, werden viele Einheimische den Kopf schütteln, denn Meereskost am Emsbach ist ziemlich weit hergeholt.
Völlig verunglückt: das übergeschnappte Logo, mit unlesbarem Namen, unverständlich in seiner Aussage. Am Haus funktioniert es überhaupt nicht. Wenn man davor steht fragt man sich »Wo ist hier ein Restaurant, bitteschön?«. Und so glaube ich, dass 90 Prozent in meiner Heimatstadt das Casamar gar nicht kennen, obwohl es direkt gegenüber der Post liegt.
Das Darstellungsproblem scheint der Wirt inzwischen gemerkt zu haben. Heute schreibt er auf seiner Webseite: »In nur zwei Jahren waren wir zu einem der besten aber immer noch wenig bekannten Restaurant der Gegend aufgestiegen!« Dann schimpft er noch ein bisschen auf jene Menschen, die er eigentlich bewirten wollte. Adieu, Jürgen Müller.
Ebenfalls im Mühlweg, kurz vor der Kreuzung mit der Bundesstraße 8, trifft man an einer ehemaligen Möbelfabrik auf ein kleines, sehenswertes Kellerfenster. Es wurde in den letzten Jahren mit alten Holz- und Metallplatten gesichert: jede Saison eine neue dazu, wie am Walk of Fame in Los Angeles. Große Kunst.
Wir biegen rechts ab in die B 8 Richtung Frankfurt. Dort liegt eine der letzten geöffneten Woolworth-Filialen im Land, doch auch sie wird bald schließen. Alles muss raus! Der Schlecker nebenan wird im September folgen, der Matratzenladen im selben Gebäude hat bereits vor mehreren Wochen die Segel gestrichen. Wenn Schlecker eine Immobilie verlässt, muss sie wirklich wertlos sein.
In einer Brache gegenüber erblüht neues Geschäftsleben, links ein Imbisswagen mit Vorbau, der uns neugierig machen möchte, daneben ein Marktwagen, aus dem heraus Backwaren verkauft werden. Davor vier Halteflächen für Kurzparker, was sehr wichtig ist, wenn man in meiner Heimatstadt ein Geschäft betreiben möchte.
Fundstücke aus der Provinz (1)
»Urlaub zu Hause kann so schön sein« schreibt das Dorfblättchen. Und das stimmt. Wenn man länger nicht mehr in seiner Heimatstadt war, sieht man viele Alltäglichkeiten mit anderen Augen. Vor allem ist die »freie Zeiteinteilung entspannend zu händeln«, wobei »spontane Aktionen auf dem Plan stehen können«.
Wie oft bin ich schon an diesem Piktogramm im Freibad vorbei geschwommen und habe mich gefragt, warum noch niemand diese Sportart erfunden hat: Handfußball. Weil es den nicht gibt, stellen sich die Kinder doof und spielen mal Handball, mal Fußball am Beckenrand.
Die neue Möblierung in der Altstadt muss noch von der Bevölkerung angenommen werden. Der Gastwirt des Pizzastübchens unterstützt diesen Prozess mit einem Notizzettel: »Ich bin ein Fahrradständer«. Das ist dringend nötig, denn die Metallbögen verraten ihre Funktion nicht.
Das »Siegertreppchen« ist ein Kunstwerk im Kurpark, gestaltet von Heide Weidele und Martina Schober. Seine 3 Standflächen zieren wunderliche Lobeshymnen auf die Heimatstadt, geschrieben im Stil eines Kinderaufsatzes.
Wer kennt dieses Zeichen?
Immer häufiger endecke ich auf Verpackungsbeschriftungen diese kleine Säule mit Deckel (rechts unten in weiß), auf dem Sockel eine Zahl mit der Einheit M. Weiß jemand mehr über das Kennzeichen?
Mitgeschnitten (2): Most verständliche EULA ever
Meine neue Serie im Fontblog: persönliche Erkenntnisse und Randnotizen.
Meine Beschäftigung mit Axel, der ersten von FontShop herausgegebenen kommerziellen Schrift, brachte mich enger mit dem Thema End User Licence Agreement (EULA) in Kontakt, als mir lieb ist. Ich habe sie studiert, die EULAs vieler Hersteller, auf englisch und in deutsch. Ich finde fast alle unverständlich. Also habe ich mir die Aufgabe gestellt, die kürzeste, verständlichste und liberalste EULA niederzuschreiben. Sie ist nur 10 % so lang wie andere, hat aber keine rechtliche Verbindlichkeit, weil die 90 % Juristendeutsch fehlen. Es steckt aber alles drin, was User wissen müssen. Wenn die 90 % geprüft sind, melde ich mich wieder zu diesem Thema.
End User Licence Accord (EULA) für eine Schrift
1. Definition
Die gelieferte Font-Software ist ein kommerzielles Produkt und urheberrechtlich geschützt. Sie ist …
Mitgeschnitten (1): Pecha Kucha
Meine neue Serie im Fontblog: persönliche Erkenntnisse und Randnotizen.
Ist es möglich, 8 Präsentationen in einer Stunde durchzuführen? Ja, es geht, aber nicht mit PowerPoint im Kopf oder auf dem Rechner. Die Wunderwaffe für konzentrierte, spannende Präsentationen heißt Pecha Kucha. Das ist keine neue Software, sondern eine simple Spielregel, 2003 in Tokio von den Architekten Astrid Klein und Mark Dytham erfunden: Dein Vortrag besteht aus 20 Folien à 20 Sekunden; ergibt eine Gesamtzeit von 6 min und 40 sek. Die Abspielsoftware für ein Pecha Kucha hat jeder auf seinem Rechner, einfach den Acrobat Reader auf Autoplay stellen, 20 sek./Seite vorgeben, 20-seitiges PDF starten und Stop nach 20 Seiten.
Habe ich simpel gesagt? Vorsicht. Ich musste lernen, dass der innere Widerstand gegen eine zeitgesteuerte, einfache Präsentationsform überall durchbrach. Man wollte es gerne kompliziert. Mich erreichten die …
WeiterlesenKünstler der Kurven
Kenner der Instrumentenbau- und/oder der Schriftenbauszene erkennen sofort die auf diesem Teller abgebildeten Formen. Sie stellen die Holzzungen des vom Wuppertaler Künstler Hans Reichel erfundenen Musikinstuments Daxophon dar. Ihre Konturen spielen auch auf seiner spaßige Internetseite eine Hauptrolle. Dass Reichel ein interdisziplinärer ›Künstler der Kurven‹ ist, beweist nicht zuletzt sein Schaffen als Schriftentwerfer: FF Dax, FF Sari und FF Schmalhans zelebrieren Kurven und Bögen auf richtungsweisende Art, so dass Reichels grafisches Werk zur Inspiration für viel Schriftentwerfer wurde.
Den Teller entwarf Hans Reichel für eine große Versteigerungsaktion in Chemnitz, die der Verein Tellerlein deck dich durchführt. Reichelt schreibt uns heute morgen dazu: »Den beiliegend abgelichteten handbemalten Teller habe ich heute zur Heilsarmee nach Chemnitz geschickt. Er wird dort zusammen mit anderen hand- oder mund-/fußbemalten Tellern am 8. Mai 2009 in der Bauhaus-Villa Esche versteigert. Der Erlös geht zu 100 % in die Finanzierung warmer Mahlzeiten für notleidende Kinder — näheres unter www.tellerlein-deck-dich.de«.
Meine N-Taste nach 2,5 Jahren
Mal wieder ein Beitrag zum Thema Schrift.
Seit dem 7. August 2006 schreibe ich täglich auf meinem MacBook Pro. Schon nach wenigen Monaten zeigten einige Tasten die ersten Abnutzungserscheinungen. Heute erkenne ich auf vieren keinen Buchstaben mehr, weil die aufgedampfte Metallschicht abgetragen ist. Angrenzende Tasten sind auf dem besten Weg zu diesem Stadium. Es sind jene, die ich nicht alleine mit der Fingerspitze berühre, sondern zusätzlich mit der Seite des Fingernagels.
Irgendwann sieht man diese Mängel nicht mehr. Dann ist es eine nette Überraschung, wenn jemand darauf aufmerksam macht. Vielleicht geht es Euch ähnlich. Zeigt her Eure Tastaturen!