Fontblog Artikel des Jahres 2009

Gratulation an Würzburg: Provinz auf Weltniveau

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Kein Drehbuchautor hätte sich die aktu­elle Provinzposse zum Thema »Design als demo­kra­ti­scher Prozess« besser ausdenken können. Dabei ist das Etikett »Provinz« in diesem Fall ausdrück­lich gewünscht, sozu­sagen Bestandteil des Briefings. Es geht um Würzburg, die kreis­freie Stadt im baye­ri­schen Regierungsbezirk Unterfranken, Verwaltungsmetropole, 134.000 Einwohner und damit nach München, Nürnberg und Augsburg die viert­größte baye­ri­sche Stadt.

Anfang des Jahres beschloss die Würzburg AG, die »erste gemein­nüt­zige Regionalmarketing-Aktiengesellschaft Deutschland«, mit einer Werbekampagne das Ansehen der Stadt zu fördern. Im Mai erfolgte der Startschuss für den »neuen Würzburger Weg im Stadtmarketing«. Gemeinsam mit der Online-Kreativ-Community jovoto (Fontblog berich­tete: Frank-Walter Steinmeier tappt in Crowdsourcing-Falle) sollten gute Ideen für eine 360°-Kampagne entwi­ckelt werden, die alle Stärken der Region Würzburg heraus­ar­beitet. Ziel sei die Steigerung der »Attraktivität der Universitätsstadt und ihrer Umgebung für Investoren, Wissenschaftler, Studienanfänger und Gäste gestei­gert werden – regional, national und inter­na­tional.« Dabei stehe sogar das aktu­elle einge­setzte Reizwort »Provinz auf Weltniveau« zur Disposition. Ausgesprochen bemer­kens­wert: Die eigent­lich geschlos­sene jovoto-Site öffnete für diesen Wettbwerb »insbe­son­dere Kreativen aus Würzburg den Zugang zu unserer Community«. Seilschaft, ick hör dir trapsen.

Jovoto-Gründer Bastian Unterberg erläu­tert die Würzburger Wettbwerbsstrategie in einem Sevenload-Video:

Link: Wuerzburg AG: Bastian Unterberg - jovoto.com

Sechs Wochen später lagen rund 400 Entwürfe von 90 Kreativen vor. Ende Juli kam es zu einer Vorauswahl durch eine Findungskommission. Der Slogan »Würzburg, die Provinz auf Weltniveau« wurde als Favorit gefeiert, was unmit­telbar Empörung auslöste, nicht zuletzt weil das vorläu­fige Siegerkonzept von der Agentur Buena la Vista AG stammt, deren Vorstandsmitglied Dieter Schneider auch im Aufsichtsrat des Auftraggebers sitzt. War der jovoto-Wettbewerb eine Scheinveranstaltung?

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Am 31. Juli kam es zum Showdown im Würzburger Vogel Convention Center. Rund 60 der 100 einge­la­denen Vertreter aus Wirtschaft, Politik und des öffent­li­chen Lebens lud die Würzburg AG zur Abstimmung über das beste Konzept. Zuerst galt es, unter den über 80 von jovoto mitge­brachten Vorschlägen eine weitere Vorauswahl zu treffen. Die ausge­wählten neun Vorschläge mussten dann in einer 2. Runde gegen den »Provinz auf Weltniveau«-Slogan antreten.

Am Ende erhielt der Provinz-Slogan mit 157 die meisten Stimmen. Platz zwei ging an »Würzburg – Überraschend anders« mit 123 Punkten, den dritten Rang holte sich die Idee »WürZ.B.urg« mit noch 118 Punkten. (Die Abstimmung aus der Sicht von jovoto).


Morgen, 20:00 Uhr: neues SPIEGEL online

Heute:

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Morgen:

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Wie der SPIEGEL heute ankün­digt, wird seine Online-Seite ab morgen »noch moderner, übersichtlicher, eleganter.« Allerdings bringe der Relaunch Version 8.0, laut Meedia, keine revo­lu­tio­nären Änderungen: Die Seiten wurden neu geglie­dert, Bilder und Schriften vergrö­ßert, Navigationselemente opti­miert. Zur wich­tigen Startseite schreibt der SPIEGEL: »In der rechten Spalte finden Sie aktu­elle Video-Nachrichten, auf Seite 2 die besten Artikel aus 24 Stunden, Leserempfehlungen, neueste Börsendaten, aktu­elles Wetter und vieles mehr.« Die Breite der Website wächst um 130 auf 900 Pixel, Videos werden promi­nenter einge­bunden, und die Artikelseiten bekommen ein neues Layout.

Die eigen­nüt­zigen Ziele des Relaunchs, laut Chefredakteur Rüdiger Ditz: die Zahl der Zugriffe um etwa 10 Prozent erhöhen und eine flexi­blere Vermarktung aller Themen durch die Spiegel-Online-Mediaagentur Quality Channel.

Der letzte Relaunch von Spiegel Online fand im September 2006 statt. Ein Tipp für alle Designkritiker: Schnell noch ein paar Screenshots der heutigen Seite schießen, um sie morgen mit der neuen zu vergleichen.


Bücher frisch ausgepackt (1): Branding Identity

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Warum kommen so viele gute Designbücher aus China? Ich glaube zumin­dest, dass Branding Identity dort konzi­piert wurde. Der Verlag Sendpoint sitzt in Guang Zhou, die Liste der 30 Mitwirkenden weist zur Hälfte asia­ti­sche Namen auf. Weil ich vom Verlagsgeschäft wenig verstehe, darf ich mal wild speku­lieren. China wurde inner­halb weniger Jahrzehnte zur welt­weit führenden produ­zie­renden Nation. Dass die Chinesen gut drucken können hat sich auch bei den euro­päi­schen Buchverlagen längst herum­ge­spro­chen. Dass sie Bücher auch inhalt­lich betreuen möchten – über das Abtippen von Telefonbüchern und das Scannen anti­qua­ri­scher Werke hinaus –, scheint die nächste Entwicklungsstufe des chine­si­schen Plans zu sein, vom welt­weiten Buchmarkt zu profitieren.

Wer einen Vorsprung aufzu­holen hat, der beob­achtet erst mal ganz genau seine Vorbilder. So gesehen passt die Beispielschau Branding Identity genau in diese Strategie. Und die Herausgeber haben gut beob­achtet, über welche Marken und Corporate Identities in den vergan­genen Monaten welt­weit disku­tiert wurde. Ganz offen­sicht­lich lesen sie auch Fontblog, denn wir treffen alte bekannte im Buch: die Poster der Berlinale 2007 wie auch das Redesign des Erscheinungsbildes unseres TYPO-Spielstätte Haus der Kulturen der Welt (Haus der Kulturen der Welt wird »das Haus«). Sie werden in der Sektion Kultur als außer­ge­wöhn­lich vorge­stellt. Weitere Themenblöcke des 240-seitigen Bildbandes: Magazine, Bücher, Geschäftspapiere, Ausstellungsdesign, Experimente, Packaging, Labels, Kosmetik und vieles mehr.

Auch in diesem bild­be­tonten Werk spre­chen mir 3 kompakte Textdoppelseiten (englisch) aus dem Herzen. »Strategy and Tips for a Successful Logo Design« enthält zwar nur die aller­sim­pelsten Ratschläge. Trotzdem reichen sie aus, um orien­tie­rungs­lose Auftraggeber (Stichwort Stadtmarketing) auf den rechten Weg zu bringen. »Branding Mistakes« fasst 14 Vorurteile und Stolpersteine zusammen, auf die jeder Designer eine Antwort haben muss, wie zum Beispiel »Mein Produkt verkauft sich von selbst … ich brauche kein Kommunikation« oder »Unsere Webseite macht mein Sohn«. Ein Glücksfall ist die Doppelseite »I Hate my Logo! What You Should Get For Your Money and Why«, das sind Hinweise für Auftraggeber, was sie von ihrer Corporate-Design- oder Brand-Agentur erwarten dürfen. So offen wird kein Auftraggeber mit Designern spre­chen … also wappnet Euch auf diesem Weg mit den essen­zi­ellen Leistungswerten.

Wie von einem Buch aus Übersee fast zu erwarten … es kostet nicht die Welt: 35 € inkl. MwSt. (versand­kos­ten­frei im FontShop). Dabei ist es sehr gut ausge­stattet, mit Fadenheftung, und geprägtem Pappumschlag, desi­gned by Silnt (Projektseite der Agentur). (Foto: Silnt)


Ikea-Katalog 2010: Verdana ersetzt Futura

Der neue Ikea-Katalog wird gerade in Europa ausge­lie­fert. In den USA ist er bereits in den meisten Haushalten ange­kommen. Und von dort schwappen nun die ersten Horrormeldung via Twitter über den Teich: Der Hauptkatalog 2010 ist komplett in der Allerweltsschrift Verdana gesetzt. Drei typi­sche Kommentare: Web-Fonts sehen gedruckt bescheuert aus, Ihr habt meinen Respekt als Designer verloren, typo­gra­fi­sche Identitätskrise.

Damit verab­schiedet sich das Möbelhaus in dieser Saison von der lange verwen­deten Futura. Warum haben die schwe­di­schen Kataloggestalter das getan? Sicher nicht zur Verbesserung der Lesbarkeit: Schon seit Jahren wünsche ich mir eine Serifenschrift fürs Kleingedruckte. Um den gedruckten Auftritt mit dem Internet-Auftritt in Einklang zu bringen? Möglicherweise. Mehr Profil gewinnen: Eher nicht.

Ich glaube … doch das wird die Schweden so nicht zugeben: Verdana ist billig, Verdana ist massen­taug­lich, Verdana ist zeit­gemäß. Sind das nicht die Markenwerte von Ikea?


Face to Face: Frankreich/Deutschland

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Frankreich ist das Partnerland der neunten Konferenz für Wirtschaft und Design, Face to Face (F2F9). Das inter­na­tio­nale Treffen von Designexperten und ihren Auftraggebern aus Industrie, Handel und Dienstleistungsbranchen findet statt vom 12. bis 14. November in Ludwigsburg statt. Partner auf fran­zö­si­scher Seite ist der Designerverband AFD, Alliance Française des Designers.

Der Veranstalter hat jetzt das Programm vorge­stellt. Knapp 50 Experten aus Frankreich und Deutschland, Spanien und Großbritannien werden mit Präsentationen aus unter­schied­li­chen Disziplinen aufwarten. »In diesem Jahr wird das Kommunikationsdesign wieder eine deut­lich stär­kere Rolle spielen,« sagt Henning Horn, Initiator und Gründer von Face to Face e. V., »damit folgen wir dem Wunsch vieler Konferenzteilnehmer.« Die Beiträge kommen zu glei­chen Teilen aus Frankreich und Deutschland.

Weitere Informationen und Anmeldung …


Happy Birthday: 20 Jahre Beowolf

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Vor 20 Jahren program­mierten Erik van Blokland und Just van Rossum in Berlin die legen­däre Schriftfamilie Beowolf, bestehend aus 3 Schnitten. Der »sprin­gende Punkt« von Beowolf basierte auf einem PostScript-Type-3-Algorithmus. Die Programmiersprache stellte nämlich eine Zufallsfunktion bereit, mit deren Hilfe es möglich wurde, die Bézier-Stützpunkte der Buchstaben in defi­nier­baren quadra­ti­schen »Gummizellen« beliebig driften zu lassen – je größer die Zelle, umso drama­ti­scher der Zufallseffekt in den Lettern. Auf diese Art entstanden drei Beowolf-Fonts mit zuneh­menden Random-Graden: Beowolf R21, R22 und R23.

Schon die Nummerierung – ange­lehnt an die Univers-Nomenklatur von Linotype – lässt ahnen: Beowolf war großer Zauber und ein Riesenspaß, die »reine Magie« (HD Schellnack). Das beweist auch die oben repro­du­zierte Anzeige aus dem Jahr 1990, die anläss­lich der TYPO 90 im Emigre-Magazin erschien. Sie zitiert auf blas­phe­mi­sche Art eine Auftaktseite des berühmten Manuale Tipografico von Giambattista Bodoni, erschienen 1818. Just und Erik griffen das bis heute im Corporate Design von FontShop fest veran­kerte Prinzip des vertikal geteilten Formprinzips auf, und gestal­teten die Bodoni-Seite links klas­sisch (aber negativ), rechts rando­mi­siert. Großes typo­gra­fi­sches Kino, ein Klassiker, an den ich mich gerne erinnere.

Was 1989 noch niemand ahnte: Beowolf wurde die Initialzündung für die größte Bibliothek zeit­ge­nös­si­scher Schriften, der FontFont-Library, gegründet 1990. Und weil sich diese Bibliothek ihrem Erbe verpflichtet fühlt, erfreut sich FF Beowolf bester Gesundheit. Die Familie wurde vor 2 Jahren ins zukunfts­träch­tige OpenType-Format trans­fe­riert, von ihren Original-Schöpfern, mit glei­cher Raffinesse und uner­reichtem Charme: Beowolf OT kommt (Fontblog-Ankündigung vom Januar 2007).

Hier geht’s zur FF Beowolf OT im neuen FontShop …


Solide: neuer Webauftritt Deutscher Bundestag

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Bundestagspräsident Lammert präsen­tierte heute Vormittag den neuen Internetauftritt des Deutschen Bundestages. Im Mittelpunkt des Angebots www​.bundestag​.de stehen jetzt bewegte Bilder. Debatten und Ausschusssitzungen mit Hintergrundinformationen werden live über­tragen. Das Parlament möchte sich in Zukunft den Bürgerinnen und Bürger über­sicht­lich und täglich aktuell präsentieren.

Die letzte Überarbeitung fand vor 5 Jahren statt. Ein Grund für die »Investition von rund 300.000 €« war die Anpassung des Webauftritts an das neue Corporate Design des Bundestages: neue Wort-Bild-Marke, über­ar­bei­teter Adler, redu­zierte Farbgebung (über­wie­gend schwarz-weiß-grau), Signalfarbe Orange, die Schrift Melior bzw. Georgia für html-Texte. Der Relaunch-Auftrag ging nach einer sechs­mo­na­tigen Ausschreibung im Frühjahr an die Düsseldorfer Agentur Babiel, die den Web-Auftritt des Bundestages bereits seit 2004 betreut.

Die Navigation wurde komplett reno­viert. Die Datenbanken des Bundestages sind für das Fachpublikum nun besser erreichbar. Informationen für Besucher, Presse, Kunst- und Geschichtsinteressierte sind in Rubriken für Zielgruppen schnell abrufbar. Die aktu­ellen Online-Petitionen sind direkt auf der Startseite sichtbar. Von dort aus können Bürger online öffent­liche Petitionen mitzeichnen oder sie in Foren diskutieren.

Die neue Internetseite erklärt die viel­schich­tigen Arbeitsebenen des Parlaments und erläu­tert diese mit Grafiken, Bildern und Beispielen. Wie sieht die Sitzungswoche eines Volksvertreters aus? Wie viel Geld steht ihm für sein Mandat zu? Welche Auskunftspflichten hat er? Die Onlineredaktion wird noch in der Wahlnacht vom 27. September alle biogra­fi­schen Angaben der neuen Mitglieder des Bundestages in der 17. Wahlperiode aktualisieren.


CDU: Die Kraft der Helvetica

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Was ist denn bei der CDU los. Vor 4 Jahren verlieh ich ihr im Fontblog den Titel Siegerin der TYPO-Herzen. Das amtliche typo­gra­fi­sche Endergebnis der Bundestagswahl 2005 war ein Scherzbeitrag, jedoch mit durchaus realem Hintergrund: Wenn die deut­schen Parteien betonen möchten, dass sie ein klares Profil haben, dann sollte sich das im Wahlkampf durch eine unver­wech­sel­bare Hausschrift ausdrücken.

Die CDU hat mit FF Kievit (oben rechts) eine prägende Schrift. Dass sie nun bei der ersten Plakatwelle zum Wahlkampf 2009 darauf verzichtet und die weit verbrei­tete Helvetica (oben links) einsetzt – gegen die ich nichts habe –, sagt mir als visuell aufmerk­samer Mensch: Die CDU verschlampt ihr Profil.

Fontblog-Leser Gregor Dschung machte mich noch darauf aufmerksam, dass das Verhalten der häufig vorkom­menden kriti­schen Buchstabenkombination FT (KRAFT, WIRTSCHAFT, VERNUNFT, …) nicht durch eine Ligatur gelöst sondern dem Zufall über­lassen werde: alle CDU-Plakate der ersten Welle auf einen Blick.